1_Angelika

     English version below

Ich treffe Angelika zum ersten Mal in Rabbi Mordechai´s Wohnzimmer. Freitags am Sabbat Abend lädt er alle ein,

bei sich zu feiern. Alle, die keine Familie haben, seine eigene Familie und uns, die Touristen.

Auch von der Straße sind Menschen da. Zum zweiten Mal bin ich dabei und wieder erstaunt, wie viele Leute in sein Wohnzimmer passen. 

Die Klimaanlage ist auf Nordpol eingestellt und es ist wahnsinnig eng. Es gibt sehr gutes Essen und davon viel und in mehreren Gängen.

Die Tische sind mit einer Plastik Tischdecke belegt, gegessen wird von Plastik Geschirr mit Plastik Besteck. Am Schluss wird alles zusammengewickelt und in Müllbeutel gestopft. Nicht leer gegessene Suppenteller, halb volle Getränkebecher, Speisereste, Servietten, Besteck, alles. 

Mein europäisches Mülltrenner-Herz schreit auf!

 

Der Rabbi ist heute nicht da, aber sein Sohn führt durch den Abend.

Wir bekommen Büchlein in hebräisch- englischer Übersetzung ausgeteilt, mithilfe derer wir am Gesang und rezitieren von Thora-Versen teilnehmen können. Ich bin viel zu abgelenkt, um jetzt in einem Büchlein an der richtigen Stelle mitzulesen.

Männer vom anderen Tisch lächeln und zwinkern mir zu. Ich habe den Eindruck, das ist mehr eine inoffizielle Brautbörse, als ein Sabbat-Abend hier.

Natürlich sitze ich am Frauentisch. 

Gegenüber zwei jüdisch- orthodoxer Damen, neben einer frisch eingewanderten Französin, meiner Freundin Juli und schräg gegenüber ein paar deutscher Touristinnen. Eine der Deutschen hat wunderschönes, langes, weißes Haar. 

Ich flüstere Juli zu, dass ich in ihrem Alter auch mal so schönes Haar haben möchte.

 

Der Sohn des Rabbis spricht und die Leute hören mehr oder weniger zu. Meistens eher weniger.

Die jüdischen Damen mir gegenüber unterhalten sich laut und ungeniert. Uns Touristinnen mustern sie kritisch.

Es kommt der Teil, an dem alle Gäste Gelegenheit bekommen, das Wort zu ergreifen. Ich verstehe nichts von dem, was gesagt wird.

Der Tonfall, die Mimik, Gestik und die Körperhaltung sprechen jedoch Bände.

Also verstehe ich irgendwie doch. Hier der, der sich wahnsinnig gerne selbst reden hört, dort der, der schon zu lange alleine ist, um zu spüren, wann die Zeit gekommen ist, dem nächsten das Wort zu erteilen. Aber auch der, bei dessen Reden alle respektvoll zuhören.

An den Reaktionen der Gäste kann man viel ablesen.

 

Diese Runde spiegelt eine Gesellschaft. Auch unsere Gesellschaft. Das hat in erster Linie gar nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun.

Und immer wieder ein gut gelaunter Rabbi- Sohn, der moderiert, nickend zustimmt, oder beschwichtigend einlenkt.

Was für ein riesengroßes Herz hat er, dass er alle, aber wirklich alle in sein Wohnzimmer einlädt.

 

Der inoffizielle Anführer jedoch ist eine israelische Version von Bud Spencer. Sobald es ihm zu bunt wird, beginnt er zu singen und fordert mit wedelnden Armen die anderen auf, es ihm gleich zu tun. Es funktioniert jedes Mal, denn er singt laut und zusammen Singen gehört hier zum guten Ton.

 

Die beiden Damen gegenüber schöpfen sich Massen von Essen auf ihre Teller, von dem sie aber kaum etwas anrühren.

Eine von ihnen hat schon die ganze Zeit einen weissen Soßenklecks im Gesicht hängen und die andere schläft regelmäßig im Sitzen ein. Ich kann beobachten, wie ihr Kopf immer weiter sinkt und dann dieser Moment, in dem sie es merkt und aufschreckt.

Mehr als einmal muss ich das in mir aufsteigende Lachen unterdrücken. Ich versuche, das hier alles einzuordnen.

Wer sind diese Leute alle, die sich in Rabbi Mordechai´s Wohnzimmer drängen? Wieso mustern uns die jüdischen Damen so unverhohlen?

Es kommt mir alles wie ein Film vor. Endlich spricht eine von gegenüber mit uns Touristinnen.

Ob ich die Tochter von der weisshaarigen am anderen Tischende sei, die habe ja auch so blaue Augen wie ich. Die Dame meint Angelika.

Doch ihren Namen werde ich erst zwei Tage später erfahren.  

Unser Tisch grenzt direkt an die Privaträume des Rabbis. Es gibt sehr viele Kinder und andere Familienmitglieder,

die unablässig rein und raus rennen und dabei die Tür knallen, die nicht richtig schließt. Angelika versucht immer wieder, die Tür abzufedern.

 

Auf einmal kommt ein behindertes Mädchen heraus gestürzt und greift der hübschen weißhaarigen Dame mit einer Hand in den Teller und mit der anderen in den Becher. 

Angelika reagiert blitzschnell, aber nicht hektisch. Irgendwie schafft sie es, das Verschütten zu verhindern und hält das Mädchen an den Armen fest.

Sie beginnt, freundlich mit ihr zu sprechen.

Natürlich versteht das Kind kein Deutsch, aber sehr wohl die liebevolle Art. Die Kleine lässt sich von ihr festhalten und schaut sie mit großen Augen an. Offensichtlich hat Angelika eine beruhigende Wirkung auf sie. Ziemlich schnell zerrt die Familie das Mädchen wieder zurück in die Privaträume. Schade, denke ich. Ich hätte gerne gesehen, wie es mit den beiden weiter gegangen wäre.

 

An diesem Abend gehe ich früher. Es fahren keine Straßenbahnen am Sabbat und wir haben noch einen langen Fußmarsch vor uns bis in die Altstadt.

Ich komme nicht dazu, mit Angelika zu sprechen, aber ich muss noch öfters an sie denken.

 

Zwei Tage später taucht sie plötzlich in meinem Café auf. Sie weiss nicht, dass ich dort arbeite.

Die Freude ist auf beiden Seiten groß!  Jetzt habe ich Gelegenheit, sie zu fragen, woher sie kommt und warum sie in Jerusalem ist.

Außerdem kann ich ihr endlich persönlich das Kompliment für ihre Haare machen. 

Es stellt sich heraus, dass sie gerade an einer internationalen Künstlermesse ausstellt. 36 Jahre findet die Messe ohne die Beteiligung von Deutschland statt und nun vertritt Angelika Deutschland schon zum vierten Mal. "Die erste zu sein, die hier ihre Kunst für Deutschland ausstellt, das ist etwas ganz besonderes! So etwas kann man nicht selbst planen!". Selbst 2014 während des Israel- Gaza Konflikts ist sie da.

Angelika erzählt mir von Begegnungen, die anrühren. Nachdem Besucher das "Germany"- Schild über ihrem Stand lesen, sagen viele "We love Germany!". Oft hört sie auch den Satz: "Germany is more than Holocaust!".

 

Angelika ist keine von denen, die von ewigem Schuldkomplex geprägt mit gebeugten Schultern durch Israel wandern und die ganze Zeit "Schalom" vor sich her murmeln. Sie sieht Versöhnung als wichtiges Thema und ist deswegen präsent. Mit allem, was sie ausmacht.

Durch ihre eigene Hörbehinderung ist sie es von je her gewohnt, genau hin zu sehen.

Sie spürt zwischen den Zeilen und spricht ohne gesprochene Sprache. Mit ihrer Kunst und ihrer Schönheit steht sie aufrecht als Botschafterin für Deutschland und den Gott der Versöhnung, den sie kennt und liebt. 

Lächelnd hört sie sich die deutschen Volkslieder an, die ältere Israelis noch von früher kennen und an ihrem Stand zum Besten geben.

Angelika ist nahbar und schnell dabei, jemand in den Arm zu nehmen. Man nimmt ihr ihre Liebe zu Menschen und zu Israel ab.

Ich sehe eine Frau, die mit sich selbst versöhnt ist, sich bewusst ist, wer sie ist und was sie zu geben hat.

Eine Besucherin kehrt noch mal um, um ihr zu sagen "Danke, dass ihr euch auf den Weg gemacht habt!". 

 

Inzwischen möchte ich im Alter nicht mehr nur dieselben weißen langen Haare haben, wie sie, sondern hoffe, dass ich dann auch so ganzheitlich schön sein werde. Danke Angelika für dein Vorbild und für die Zeit, die ich mit dir verbringen durfte!

I meet Angelika for the first time in Rabbi Mordechai´s living room.

Like every Friday night everybody is invited to celebrate Shabbat at his place. Everybody without a family, his own folks and us, the tourists.

There´s also people from the street. I´m here for the second time and again amazed to see how many people fit in his living room.

The air condition is set at north pole and it is way too crowded.

Delicious food is served on tables covered by plastic tablecloths. Food is eaten from plastic dishes with plastic cutlery. In the end, everything is wrapped together and put in a bin. Half empty plates of soup, half empty beverages, food leftovers, napkins, cutlery, everything.

My inner well trained european waste sorting system gives a silent yelp.

 

Everyone gets booklets with Hebrew to English translations to be able to join the singing and recitation of Torah verses. I´m way too distracted to follow the right lines in time. Men sitting at the other table smile and wink at me. It is my feeling this is an unofficial marriage bureau.

Of course, I sit at the women´s table: Vis-à-vis two Orthodox Jewish ladies, next to a recently immigrated French woman, my friend Juli and kitty-corner to some German tourists.

One of the Germans has magnificent, long white hair. I whisper in my friend Juli´s ears: „When I´m old, I want to have the same beautiful hair as her“.

 

The rabbi´s son speaks and the guests listen more or less. Mostly less. The Jewish ladies on the opposite side go on chatting brazenly and alternately examining us critically. 

Now´s the part, where everybody is welcome to speak. Sadly I don´t understand a lot of Hebrew, but tone, facial expression, gestures and body posture speak for themselves. So somehow I´m understanding after all. Here the one that loves to hear himself speak, there the one that has been alone too long to realize when the time has come to leave the word to another person. Also the person that is listened to respectfully. There´s a lot readable from the guest´s reactions.

 

This meeting reflects society. Also our society. It´s not about religion in the first place.

 

And again and again, a good humored rabbi´s son, moderating, nodding in agreement, allaying.

The unofficial leader in the room is however the Israeli version of Bud Spencer. As soon as he has enough of something he starts to sing and invites the others with wagging arms to do the same. It works every time because he sings loud and singing  here  is courteous.

The two ladies in the opposite side serve themselves tons of food but hardly eat anything of it. One of them has a little splash of sauce in her face already all the time and the other one falls asleep regularly. I can watch her face descend lower and lower and then that moment when she startles…

More than one time I restrain the laughter that tries to come up in me.

I try to get it. Who are all these people stuffed in Rabbi Mordechai´s living room? Why are these jewish ladies platantly eyeing us up and down?

This is better than a movie.

Finally one of the jewish ladies talks to us tourists. If I am the white haired ladies´s daughter she wants to know. Because she has the same blue eyes as me. The jewish woman is talking about Angelika from Germany. I won´t find that out before two days later.

Our table touches the private spaces of the Rabbi´s family. There are many children and other members of the family who continually run in and out the private rooms, every time slamming the door. Angelika tries to cushion it. All of a sudden, a handicapped girl jumps out that door and grabs in Angelika´s food with one hand while reaching for the drink with the other.

Angelika reacts as fast as lightening keeping calm at the same time. Somehow she manages to prevent worse, clings the arms of the girl and talks to her calmingly.

Of course, the kid doesn´t speak German but nevertheless the language of love. Being held by Angelika she looks at her with big eyes.

Obviously that woman has a soothing effect on her. Rather fast, the girl is pulled back to the private rooms. What a shame, I think. I would have loved o know how the story would have continued.

That night we don´t stay until the end of the Shabbat celebration. There´s no street cars traveling tonight so we have a pretty long walk home to the Old City ahead of us. I don´t get to speak to Angelika after all. But she will be treasured.

 

Two days later she shows up in my café!

She doesn’t´t know, I´m working there. The joy is great on both sides. Now I can ask her where she comes from and what she´s doing in Jerusalem. Also I can finally pay her a compliment about her great hair.

It tuns out she exhibits at an international art fair. 36 years, the fair takes place without the participation of Germany and now she represents her country for the fourth time: „To be the first person to represent her art for Germany, that really means a lot to me! You can not plan that on your own. That must be prepared in a higher place!“ Even during Gaza War in 2014 she is here.

Angelika tells me about touching encounters. Often when people read „Germany“ on the sign they say „We love Germany!“ Also she gets to hear „Germany is more than Holocaust!“

Angelika is not one of the persons being haunted by the eternal guilt complex wandering through Israel with hanging shoulders mumbling „Shalom“ all the time. Reconciliation is an important issue to her and that´s why she is present on the ground. With all that defines her. Through her own hearing impairment she is ever since used to take a close look. She feels between the lines and speaks without spoken language. Through her art and her beauty she´s standing tall as an ambassador for Germany and for a God of reconciliation whom she knows and loves.

She smiles when elderly Israelis volunteer German folk songs they know from former times at her stand. Angelika is approachable and fast to hug someone. Her love to people and to Israel is very convincing. I see a woman who is reconciled with herself, aware of who she is and what she is able to give.

One of the visitors turns around and comes back just to tell her: „Thanks for having set out!“

 

In the meantime I don´t only want to have the same beautiful white hair as her but I also hope to be as holistically beautiful as her.

Thank you Angelika for being a role model and spending your time with me!